Deutsche Standards – marokkanische Gelassenheit

 

Ich empfinde mein Heimatland und die deutsche Kultur viel positiver als vor meiner Reise nach Marokko. Die unschönen Seiten haben sich dadurch allerdings und natürlich nicht einfach in Luft aufgelöst.
Es stellt sich damit die Frage, wie gehe ich damit um?

 

Heute kam der Bürgermeister persönlich am Wohnwagen vorbei.

Mehrere Leute seien auf „die Frau mit dem Hund im Wohnwagen“ aufmerksam geworden.

Man muss wissen, in Deutschland ist es untersagt, einen Wohnwagen „einfach so“ an einem Ort abzustellen und (außerdem) sich dort eine Zeitlang aufzuhalten. Wo kämen wir denn da hin?
Wo ein Wohnwagen zu stehen hat, wie lange und zu welchem Zweck ist genauestens in diversen Vorschriften geregelt.


Nun, der Bürgermeister war sehr nett und ein recht liberaler Mensch, wie mir schien. Um ihn geht es mir in keinster Weise. Aufgestoßen ist mir diese (typische?) Eigenart deutscher Bürger, deren Hauptaufgabe es wohl ist, sich um Recht und Ordnung zu bemühen, wobei ihnen eine kleine Portion „Unordnung“ sicherlich nicht schaden würde.

Dieser Anteil der deutschen Kultur widerstrebt mir, zumal nicht nach Sinn oder Unsinn von Regeln gefragt wird und es oft lediglich um ein bloßes Einhalten geht.
Vielleicht hat dies auch mit der Grundangst vieler Deutschen zu tun, die sich in unzähligen Versicherungen, präzisen Plänen und diversen Vorkehrungen äußert, um das Risiko eines Risikos zu minimieren und ruhig schlafen zu können?!
In meinem Buch schreibe ich in einem Kapitel über Standards, die ich eigentlich so gar nicht mag, durch meine Erfahrungen in Marokko jedoch wieder sehr zu schätzen gelernt habe.
Standards sind an sich ja erst mal nichts schlechtes und können je nach Inhalt und Kontext eine sinn- und wertvolle Weiterentwicklung sein.
Letztendlich bleibt für jeden persönlich jedoch immer die Frage, wieviel er davon haben möchte (oder braucht) und wie er dann in der Situation mit diesen umgeht…
Nur weil ein Standard existiert, muss ich mich dem nicht einfach unterordnen oder diesen gar übernehmen. Ich habe immer die Wahl und die Freiheit, wie ich damit umzugehen!
Ich kann eine Vorschrift im Extrem sofort und pflichtbewusst erfüllen oder den Sachverhalt mit einer marokkanischen Haltung etwas gelassener angehen.

Die absolute Gegenbewegung zu Standards: Wie als ob ich es geahnt habe, hängt seit einigen Tagen Pippi Langstrumpfs Ausspruch im Wohnwagen…

Ich habe Standards, die unhinterfragt übernommen werden, noch nie gemocht (und habe wenig Toleranz mit den Menschen, die in dieser Haltung unkritisch agieren), war trotz dessen unterm Strich eine „Erfüllerin“. Vielleicht wird es Zeit, das zu ändern und manches mit mehr Gelassenheit anzugehen.

Die Deutschen…

Das Seltsamste an Deutschland ist,

dass hier Männer Kinderwagen schieben,

dass Radios so billig und Teppiche so teuer sind

und dass den ganzen Tag Kirchenglocken bimmeln.

 

In Deutschland dachte ich zu Anfang,

hier würden den Leuten Hunde geboren statt Kinder.

Denn sie haben viele Hunde

und tragen sie auf dem Arm.

Hunde und Katzen

leben wie Könige in Deutschland.

 

In Deutschland gibt es Leute, die haben Geld

und sehen trotzdem traurig auf die Erde.

Sollen sie den Kummer denen überlassen,

die kein Geld haben.

 

Die Deutschen sind pünktlich wie die Eisenbahn.

Das kommt daher,

dass sie nur ein Gleis kennen,

nie vom Weg abgehen,

kein Unkraut, keine Blumen

in den Seitenwegen pflücken.

Sie fahren immer geradeaus,

sind pünktlich wie die Eisenbahn

und nehmen nichts wahr.

Hajaj, Mustapha et al (1981): Fünf Geschichten. Ararat-Verlag.

 

Ich packe und dabei fallen mir immer wieder Bücher, Gedichte und Texte in die Hand, die ich nicht spurlos in einem Karton verschwinden lassen möchte. Viele blätter ich durch, vergesse die Zeit und merke, wie sehr mich Worte und Sprache begleiten und je nach Phase und Lebensabschnitt eine ganz eigene Bedeutung bekommen.

So geht es mir auch mit diesem Gedicht von Mustapha Hajaj.

Ich frage mich, ist es erschreckend oder normal, dass sich seit diesem Gedicht vor nun doch fast 40 Jahren meines Erachtens nach wenig geändert hat?

Und ich überlege:
Wie wird es mir ergehen, wenn ich statt der Kirchenglocken die Muezzins rufen höre? Wenn ich die Katzen und Hunde in Marokko erleben werde?
Nehmen die vielen Marokkanerinnen und Marokkaner, die ein unbändiges Lebensgefühl äußern, obwohl (oder gerade weil) sie um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen, tatsächlich die Seitenwege und die Blumen wahr? Oder ist das vielmehr die romantische Interpretation der Deutschen, die den Gegenpol zu einer durchorganisierten Welt suchen?

Das Gedicht stimmt mich nachdenklich.

Antworten werden wohl in Marokko nach und nach folgen – und sicherlich noch viel mehr Fragen, die sich aus meinen Eindrücken ergeben werden…