Marokko, kein Traumland

Casablanca

oder kurz Casa genannt, ist das wichtigste Industrie- und Wirtschaftszentrum Marokkos und mit über 3 Millionen Einwohnern die größte Stadt des Landes.

Die weiße Stadt hat ihren Namen zu Recht:
Die strahlend- bis schmutzigweißen Häuser prägen das Bild dieser Stadt.

Auf den Boulevards sind es die vom Jugendstil iinspirierten Stadthäuser aus den 30er und 40er Jahren, die an die französische Kolonialzeit erinnern. Manche in prachtvollem Zustand, andere verwahrlost und nahe am Verfall.
In Maarif, im Geschäftsviertel, sieht man Kolonialarchitektur in friedlicher Koexistenz mit modernen Stahl- und Glasbauten, die einen interessanten Kontrast darstellen und durchaus ihren Reiz haben.
In den Vororten ebenfalls diese weiß gehaltenen Häuser, wenngleich je nach Viertel mehr oder weniger dreckig und sichtbar ärmlich.

In Casablanca gibt es trotz Bemühungen und Forcierung von Bauprojekten und Bildungsinitiativen unzählige Armenviertel, in denen die Menschen in blechhüttenähnlichen Unterkünften leben und größte Armut herrscht. „Die fünf Selbst­mord­at­ten­tä­ter der An­schlä­ge, die 2003 die Stadt er­schüt­ter­ten, sind dort auf­ge­wach­sen. Viele Ma­rok­ka­ner wür­den kei­nen Fuss dort­hin set­zen“ (Connelly, Andrew 2014: Casablanca. Die große Illusion. https:// cafebabel. com/d/article/casablanca-die-grosse-illusion-5ae00934f 723b35a145e4b46/).

Die Schere zwischen reich und arm, zwischen der Zurschau-stellung von Wohlstand und dem Leben in absoluter Armut offenbart sich in Casablanca extremst.

Casablanca ist wie viele Städte Marokkos eine bunte Mischung aus unterschiedlichen Kulturen, ist jedoch u. a. durch die internationale Industrie sehr westlich geprägt. Die Autos, Boutiquen, der Kleidungsstil… Im Centre de Ville wüsste ich nicht, in welchem Land ich mich befinde und hätte eine Stadt im Süden Europas vermutet.

Nichtsdestotrotz, das Bild dieser Stadt, kann sich von einer Straße zur nächsten verändern und eine komplett andere Seite präsentieren. Das kann ich gut an dem Viertel, in dem ich während meines Aufenthalts in Casa wohne, festmachen.

In Deutschland bin ich ein Landmensch. Die einzigste Stadt, in der ich jemals gelebt habe, war Kassel. Wer Kassel kennt weiß, wie übersichtlich und beschaulich diese Stadt ist. Sie hat definitiv keinen Großstadtcharakter.
Mangels vergleichbarer Erfahrungen frage ich mich daher, ob meine Beobachtungen das Stadtbild und Leben betreffend in großen Ballungsgebieten und deutschen Städten dieselben wären?
Das Phänomen des Entdeckens ist ja, dass man unbekannte Umgebungen und
andere Länder viel   intensiver als das vermeintlich Vertraute wahrnimmt, der Unterschied zu der eigenen Welt aber oft gar nicht so groß ist.
Für mich, die deutsche Städten nie auf diese Art erkundet habe, ist diese Entdeckung ein neues Phänomen, das ich mit Marokko in Verbindung bringe.
Ich gehe davon aus, dass dies jedoch auch für deutsche Großstädte gültig ist?! Ist dies dann ebenfalls so extrem wie ich es hier wahrnehme, so als ob jemand mit dem Lineal unsichtbare Linien gezogen hat? Das wird ein Punkt sein, den ich in Deutschland in meiner neuen Heimatstadt dann ebenso erkunden möchte und werde wie ich es hier tue!

Ich wohne bei Mohamed in Khozama, im Süden der Stadt.
Mit dem Auto brauche ich über die Bundesstraße, die durch Casa verläuft, 30 Minuten in die moderne und gepflegte Innenstadt.

Mohameds Wohnung liegt innerhalb eines Gebäudekomplexes. Von außen unauffällig und nicht wirklich schön, geht man durch das Tor, am Häuschen des Wächters vorbei und gelangt in einen gepflegten Innenhof mit den Zugängen zu den Appartements.
Die Wächter sind Tag und Nacht zur Stelle. Sie sind Ansprechpartner, achten auf Ordnung und Sicherheit.


Vielleicht ist diese Gegend, in der ich wohne, tatsächlich aussagekräftig für Casas Charakter:
Eine Straße oberhalb unseres Appartements befinden sich leerstehende Geschäftsräume, nur teilweise bewohnte mehrstöckige Häuser, neue Cafés… Alles ist halbfertig unattraktiv und wartet auf neue Bewohner.

Eine Straße unterhalb findet man die vielen Läden – bei uns würde man von Kiosken sprechen –  und kleinen Friseursalons, der tägliche Souk, morgens mit frischen Lebensmitteln und abends mit allem, was man zum täglichen Leben braucht.

Während die Kinder in meinem Gebäudekomplex in hübschen Kleidchen und sauberen Hosen und T-Shirts wahlweise auf arabisch oder französisch reden, sprechen die Bewohner dieses angrenzenden Viertels fast ausschließlich arabisch.
Nichtsdestotrotz: Sie sind offen und sehr freundlich und führen jeden Morgen mit mir ausgiebige Gespräche auf arabisch.
Die Redeschwalle nach den Begrüßungen erwidere ich mit Ahs, freundlichem Lächeln und mit französischen Erläuterungen meinerseits. Dass wir nichts voneinander verstehen, scheint dem Mitteilungsbedürfnis meiner Gegenüber keinen Abbruch zu tun und meist gehen beide Seiten befriedigt nach dem Wortaustausch wieder auseinander. Ich mag es und lache. Es scheinen zudem stets wichtige Dinge zu sein, die sie mir mitzuteilen haben.

Über den Souk gehe ich am dreckigen Spielplatz vorbei, der vermüllt und abgeschlossen sinnlos die Straße säumt.
Mein Weg führt mich zur Backstube. „Juj lkhobsa!“ Ich kaufe meine zwei obligatorischen Brote, die ich gleich zuhause mit Öl und frischem Tee genießen werde.
Der Mann ist nett. Mit den Bäckern Marokkos verbinde ich ausschließlich positive Erfahrungen. Ich liebe es morgens meine zwei heißen Brote ums Eck direkt in der Backstube zu kaufen und ofenwarm zu Hause zu genießen.
Dies alles wird mir in Deutschland fehlen!

Der Gang zum Bäcker und nach Hause, ist trotz dessen alles andere als idyllisch.
Die Häuser der Einheimischen sind dreckig, nicht selten notdürftig und provisorisch. Überall liegt Müll und Totes neben Lebendigem. Halbfertige Betonbauten zwischen alten kleinen Häusern, fast alles wird benutzt und umfunktioniert, wird den eigenen Bedürfnissen und dem Bedarf angepasst.

Ich gehe oft durch die Straßen und wundere mich über mich selbst. Ich nehme die Armut zwar wahr, richtig bewusst wird mir diese aber nur in Sequenzen, meist wenn mich eine Woge von Gestank daran erinnert, wo ich mich bewege.
Es erscheint mir normal, es ist nichts besonderes.
Ich grüble und weiß einfach nicht, an was das liegt.

Wie kann ich mich hier so selbstverständlich bewegen,
ohne entsetzt zu sein, ohne auf der Stelle weg zu wollen?

In Deutschland hatte ich Zeiten, in denen auch ich sehr einfach mit den geringsten Mitteln leben musste. Allerdings hatte ich stets eine saubere Wohnung, war nie gezwungen in Dreck und Müll ohne sanitäre Anlagen zu leben. Mittlerweile bin ich zwar nicht reich, mir fehlt es aber letztendlich an nichts. Ich habe mehr als ich brauche. In Marokko habe ich immer einfach in einheimischen Vierteln oder Dörfern gelebt. Vielleicht fällt mir der Übergang von einfach zu arm in Marokko erst im Extrem auf, da man letztendlich überall damit konfrontiert ist und die Übergänge oft fließend sind? Ich weiß es nicht.

Ich komme mir seltsamerweise nicht wie die reiche Ausländerin vor. Auch das kann ich rational nicht erklären, habe ich doch mit meinen wenigen Dingen, mit denen ich durch Marokko reise bereits mehr, als viele hier für ihre gesamte Existenz vorweisen können. Es ist ein Paradox.
Mich hat vor einigen Wochen jemand gefragt, ob ich an mehrere Leben, an Reinkarnation glaube. In solchen Momenten bin ich tatsächlich geneigt, dies zu tun. Diese Bilder, die ich hier sehe, das Leben der Menschen, es ist, als ob dies alles kenne, es kommt mir nicht fremder als mein Dorf in Deutschland vor.

Laufe oder fahre ich aber durch die Areale mit den wohlsituierten Häusern und Villen, fühle ich mich unwohl. Hier fühle ich mich wahrhaftig wie eine Fremde, obwohl dies die bevorzugten Viertel auch für Ausländer sind.
Innerlich sträubt sich mir alles dagegen. Ich empfinde hier die Ungerechtigkeit dieser Stadt und der gesamten Welt mehr und deutlicher als in den armen Teilen der Stadt, in denen ich mit den Menschen auf der Straße in Kontakt komme. Hier zwischen den Palmen und grünen Rasenflächen ist niemand draußen.
Ich fahre durch diese Straßen und denke: „Auch das ist Marokko, aber ein Teil, den ich nicht kennen gelernt habe.“

Meine Berichte und Erfahrungen sind einseitig. Dessen bin ich mir absolut bewusst.
Dies ist die meine Perspektive, die ich hier eingenommen habe, mit der ich die Begegnungen und Orte betrachte und werte.
Trotz dessen wundere
ich mich oft über Rückmeldungen von anderen Marokkoerfahrenen. Wie unterschiedlich Wahrnehmungen doch sein können!

Kürzlich fragte ich in einem Forum, was den Wahlmarokkanern an deutschen Elementen fehlt. Sauberkeit und Zuverlässigkeit war neben einigen anderen Dingen die meistgenannte Antwort. Beseitigung von Missständen wie Armut, Benachteiligung, Willkür und ähnliches, Dinge die ich an Deutschland absolut hochhalte und auf die ich stolz bin, wurden nur einmal benannt.
Ich liebe Marokko, doch sehe ich zunehmend die Ungerechtigkeiten.

Eine Leserin schrieb mir, Marokko sei ihr Traumland. Ich bin an dieser Formulierung hängen geblieben. Nein. Das wird Marokko für mich nie sein! Solange absolute Armut und andere Missstände herrschen, kann es kein Traumland sein.
Ich kann hier ein sehr gutes Leben in einer faszinierenden Kultur mit warmherzigen Menschen führen, kann hier viele meiner Träume und Projekte  verwirklichen, aber diese Chancen und die damit verbundene privilegierte Stellung in diesem Land bleiben den meisten der Marokkanerinnen und Marokkaner verwehrt. Und das macht es schwer, von einem Traumland zu sprechen.

Hier an den letzten Tagen vor meiner Abreise nach Deutschland, in Casablanca, wird mir das sehr bewusst.

Ich werde ständig nach Marokko zurückkommen, vielleicht auch eines Tages hier leben, doch mein Traumland ist es nicht!

 

One Reply to “Marokko, kein Traumland”

  1. Hallo, ich habe auch in Casa gelebt , kenne aber nicht das Leben auf dem Land. Es hat sich schon viel verändert, es gibt viele Misstände aber man sieht sie, und kein Reicher kann die Augen davor verstecken. In Deutschland sieht man nicht das Leid, dass arme Arbeiter im 3weltland erleben während wir günstig die von ihnen hergestellten Waren konsumieren. Ich finde das Leben in Casa zeigt die Realtät auf einen Fleck und lässt uns demütig werden. Man kommt auch viel mehr mit der Armut in Berührung, es ist nicht so wie in Deutschland, Ach mit denen geb ich mich nicht ab. ich hab schon das Gefühl dass man sich hilft (reichere den Armen ohne Arroganz) aber das Volk kann nicht den Staat ersetzen.

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