Azul Deutschland!

Wo soll man hin,
wenn man nicht da weitermachen möchte, wo man aufgehört hat?

Ich habe in Marokko relativ einfach gelebt.
Mein Frühstück bestand aus Attaye – das ist Tee -, Brot und Öl, so wie es der Großteil der marokkanischen Bevölkerung hält. Gegessen habe ich auf dem Boden sitzend, am niedrigen Tbla, ohne Besteck.
Geschlafen habe ich auf Teppichen liegend auf dem Boden, auf den typischen Boden-matratzen, je nach Unterkunft auch in den für uns normalen Betten. Dieser Lebensstil hat sich das durch meinen marokkanischen Alltag gezogen.

Warum ich das erzähle?

Einbüßen musste ich nichts bei dieser Lebensart.
Ganz im Gegenteil: Ich habe es genossen, auf das Einfache reduziert
die Dinge zu praktizieren und zu erleben.
Und ganz nebenbei bemerkt, enthält vieles – wie zum Beispiel das Essen ohne Besteck – eine hohe Qualität, die wir Europäer mit dem vermeintlichen Fortschritt verloren und verlernt haben.

In Deutschland angekommen standen diverse Erledigungen an, die wiederum eine Errungenschaft meiner westeuropäischen deutschen Kultur sind und in Marokko nur schwer oder überhaupt nicht zu finden sind: eine Auswahl hochqualifizierter Tierärzte und Tierheilpraktiker, die Leistungen des Arbeitsamts, ein Überfluss an Büchern… Auch als Frau einfach wieder auf die Straße gehen zu können, ohne mich um die Blicke oder Kontaktversuche der Männer kümmern zu müssen, wie erleichternd!
Ich liebe die traditionelle marokkanische Kultur, doch gibt es gleichzeitig so unendlich viel Positives in meiner eigenen, die  ich den gesellschaftlich-politischen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte zu verdanken habe, die Marokko versagt blieben. Wir – die heutigen Generationen – sind Nutznießer des Buchdrucks, um nur eine Komponente zu nennen. Was uns in den Konsequenzen so selbstverständlich erscheint, macht sich in diversen islamisch geprägten Ländern – wo die Verbreitung des gedruckten freien Wortes derzeit unterbunden wurde – als Defizit in Bildung, Politik und Religion bis heute bemerkbar.

Seit ich wieder in Deutschland bin, erlebe ich vieles bewusster.
Ich sehe Zeichen und Grüße aus Marokko, darunter vieles,
was mich auf Gemeinsames aufmerksam macht.
Das, was ich sehe ist mir selten neu. Kognitiv hätte ich auch vor meinem Aufenthalt in Marokko meine Kritik an bestimmten Sachverhalten oder meine Sympathie gegenüber anderen Dingen benennen können. Gefühlt aber hatte ich dies bis zu den vergangenen Monaten nicht oder nicht in dieser Intensität.
Insgesamt sehe ich Deutschland wesentlich positiver und kann an dieser Stelle, die Relativierung weglassen. Ich korrigiere mich also: Trotz Verbesserungs- und Entwicklungsbedarf (den es immer geben wird): Ich empfinde unsere Kultur und Gesellschaft als positiv!

Ich bin nun seit vier Tagen im Spessart, nahe eines bayrischen Städt-chens (mit der Größe eines winzigen Dorfes) direkt am Wald, umgeben von Wiesen und Bäumen.
Ich kenne die Menschen hier nicht. Und doch hat mir eine Frau ihren Wohn-wagen, der mitten in diesem Idyll steht, als Unterkunft angeboten.

Hätte dies in Marokko jemand gemacht – ich glaube die marokkanische Gastfreundschaft ist fast nicht zu überbieten -, was hätten dann meine deutschen Bekannten gesagt? „Das gibt es nirgends umsonst. Sie erwarten etwas dafür.“
Das ist richtig und zwar ebenso hier wie dort! Damit ist jedoch nicht Berechnung gemeint.
Vielleicht sollten wir den Begriff der Erwartung im Alltagsgebrauch wieder neu definieren?!

Was erwartet diese Frau dafür?
„Ich habe so ein wunderschönes Fleckchen Erde. Und ich möchte andere gerne daran teilhaben lassen.“
Gespräche, Austausch, das ist es, was diese Begegnung ausmacht und sich auch meine Bekannte wünscht. So weit weg von der marokkanischen Haltung ist dies definitiv nicht!

Gastfreundschaft aus dem Herzen erwartet keine Schokolade, Stifte und Käppis.
Das sind Tauschhandel anderer Art und sagen über den Geber genauso viel aus wie über die Beschenkten.
Gastgeschenke müssen nicht materieller Art sein.
Wie oft habe ich Menschen getroffen, war dort zum Essen oder zusammen als deren Gast in Cafés. Wie oft war das spontan und die Freude bestand an dem Austausch und dem Kennen lernen, dem Vergleichen und gegenseitigen Erzählen. Dem Lachen bei der Feststellung, wie ähnlich wir uns in vielen Dingen doch sind. Das betraf meist – aber nicht nur – das Zusammensein mit Frauen. Und wie oft hörte ich die Beteuerungen: „Die Berber und die Deutschen, wir sind ein Volk.“

In Marokko habe ich lernen müssen,
mein Misstrauen dies betreffend zurück zu nehmen.
Es geht oft nicht und weniger um Materielles.

Genauso meine Bekannte hier. Und sie ist Deutsche!
Deutschland ist – aus Sicht der Deutschen zumindest? – nicht für seine großartige Gastfreundschaft und Willkommens-kultur bekannt. Viele Ausländer dagegen, auch Asylanten, dies sei an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt, dagegen erzählen von Deutschen, von deren Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit. Und damit sind wiederum nicht das Geld und die staatlichen Leistungen gemeint, sondern die zwischenmenschlichen Dinge. Fragt nach! Viele erzählen oft von der Frau, die geholfen hat, den Behördengang zu tätigen. Von der Frau, die immer wieder vorbei kommt und Hallo sagt und die Kinder begrüßt. Von dem Nachbarn, der zum Kuchen einlädt…

Seit ich hier bin, habe ich bereits solch uneingeschränkte Hilfe bekommen.
Dieter, dem die Werkstatt einen Ort weiter gehört, hat mir eine Batterie gegeben. Ich soll sie halt wieder zurück bringen, bevor ich gehe und soll auf mich im Wald aufpassen. Kein Pfand, kein Geld… Nichts. Einfach so!
Diese Erfahrung habe ich auch in marokkanischen Werkstätten gemacht.

Hier in Deutschland freut es mich mindestens genauso sehr
und ich schließe auch die Menschen dieser meiner Kultur wegen dieser Haltung bereits uneingeschränkt ins Herz.

Liegt es an meiner Haltung? Bestimmt. Liegt es an dem Ort und die Menschen hier? Sicherlich auch. Wisst ihr, es ist doch müßig sich das zu überlegen und alles zu reduzieren und abzumildern. Zu sagen, das ist nicht typisch deutsch und damit zu relativieren!
Ich will diese Erfahrungen hochhalten! Und ich möchte es so machen wie meine Bekannte hier mit dem Wohnwagen. Ich will Menschen an dem teilhaben lassen, was ich Schönes erleben und haben darf.

Wen ich diese Erfahrungen haben darf, muss es meine Pflicht sein – Wajib! – dies weiter zu geben. Denn so funktioniert das Leben. Und dann ist es egal, ob ich in Marokko oder Deutschland lebe.

Ich lebe hier im Spessart im Wohnwagen einfach. Daher die einleitende Schilderung meines marokkanischen Alltags. Das wird nur vorübergehend sein, auch ich freue mich wieder auf meine eigenen vier Wände mit Dusche und Fernsehen. Doch liebe ich diese Art zu leben – wenn ich die Wahl habe zu entscheiden!

Gestern hat mich ein Baum im Wald mit „Azul“ begrüßt und ich bin glücklich.

Auch hier in Deutschland handeln die Menschen – ich hoffe viele umd immer mehr – mit Herz und heißen Fremde willkommen.

Ich will mir diese Einfachheit des guten Lebens, das Annehmen können von Hilfe oder Geschenken und das Weitergeben von Gutem ohne Hintergedanken üben und bewahren.

 

 

aMor’n kosh

Du schreibst über Marrakech und die Imazighen und hast vergessen, was der Name der Stadt bedeutet!“

Yassin hat recht mit seinem Einwand!
Deshalb schnell ein Nachtrag zum vorherigen Artikel…

 

 

 

 

 

 

 

Der Name „Marrakech“ ist ein arabisierter Tamazight-Name:

Marr a kesh

kommt von

aMor`n kosh.


Was bedeutet Mor’n kosh oder eben Marrakech?

Es ist, wie ich finde, ein anderer wunderbarer Ausdruck für diese Stadt.

 

Wörtlich könnte man es mit „Teile von Gott“ übersetzen
und sinngemäß kann es mit „Das Land von Gott“ interpretiert werden.

„Amorn“ bezeichnet in Tamazight zum Beispiel das Teilen des Fleisches, womit ich bei der Essenskultur angelangt bin, die separat erklärt werden muss. Uns als Europäer ist diese so nicht bekannt.

Die Familie und die Gäste sitzen gemeinsam am runden Tbla, dem niedrigen Tisch, und essen aus einer großen Platte oder einem Gefäß, traditionell mit der rechten Hand. Gewöhnlich besteht das marokkanische Essen immer aus einem Teil Fleisch, das in der Mitte der Platte liegt. Jeder isst von seiner Seite, das Fleisch bliebt unberührt. Gegen Ende teilt dies (meist) die Mutter oder Frau der Familie, die gekocht hat, in bissgerechte Stücke und legt sie jedem auf seinem Platz auf den Teller.

Das ist das „Amorn“, das Teilen. Jeder bekommt das Beste am Ende und zu gerechten Teilen.

So hat wohl Gott – koch – den Imazighen (und gerechterweise sicherlich auch uns Wahlmarrakchi ) diese wunderbare Stadt als ein Teil gegeben und geschenkt.