Das Seltsamste an Deutschland ist,
dass hier Männer Kinderwagen schieben,
dass Radios so billig und Teppiche so teuer sind
und dass den ganzen Tag Kirchenglocken bimmeln.
In Deutschland dachte ich zu Anfang,
hier würden den Leuten Hunde geboren statt Kinder.
Denn sie haben viele Hunde
und tragen sie auf dem Arm.
Hunde und Katzen
leben wie Könige in Deutschland.
In Deutschland gibt es Leute, die haben Geld
und sehen trotzdem traurig auf die Erde.
Sollen sie den Kummer denen überlassen,
die kein Geld haben.
Die Deutschen sind pünktlich wie die Eisenbahn.
Das kommt daher,
dass sie nur ein Gleis kennen,
nie vom Weg abgehen,
kein Unkraut, keine Blumen
in den Seitenwegen pflücken.
Sie fahren immer geradeaus,
sind pünktlich wie die Eisenbahn
und nehmen nichts wahr.
Hajaj, Mustapha et al (1981): Fünf Geschichten. Ararat-Verlag.
Ich packe und dabei fallen mir immer wieder Bücher, Gedichte und Texte in die Hand, die ich nicht spurlos in einem Karton verschwinden lassen möchte. Viele blätter ich durch, vergesse die Zeit und merke, wie sehr mich Worte und Sprache begleiten und je nach Phase und Lebensabschnitt eine ganz eigene Bedeutung bekommen.
So geht es mir auch mit diesem Gedicht von Mustapha Hajaj.
Ich frage mich, ist es erschreckend oder normal, dass sich seit diesem Gedicht vor nun doch fast 40 Jahren meines Erachtens nach wenig geändert hat?
Und ich überlege:
Wie wird es mir ergehen, wenn ich statt der Kirchenglocken die Muezzins rufen höre? Wenn ich die Katzen und Hunde in Marokko erleben werde?
Nehmen die vielen Marokkanerinnen und Marokkaner, die ein unbändiges Lebensgefühl äußern, obwohl (oder gerade weil) sie um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen, tatsächlich die Seitenwege und die Blumen wahr? Oder ist das vielmehr die romantische Interpretation der Deutschen, die den Gegenpol zu einer durchorganisierten Welt suchen?
Das Gedicht stimmt mich nachdenklich.
Antworten werden wohl in Marokko nach und nach folgen – und sicherlich noch viel mehr Fragen, die sich aus meinen Eindrücken ergeben werden…