Zaid

Es ist mitten in der Nacht. Ich stehe in Marrakech am Flughafen und halte nach Zaid Ausschau.

„Kamelchen, du bist da! Merhaba!“

Zaid begrüßt mich.
Es ist ein schönes Gefühl.

 

Endlich wieder in Marokko, bei einem Freund, mit dem man über Monate geschrieben und telefoniert hatte. Ich bin wirklich da!

 

Wir fahren mit dem Taxi zu seiner Wohnung in einen Vorort Marrakechs, wo er gemeinsam mit einem Mitbewohner lebt und beschließen diesen ersten Abend zu Hause zu bleiben, gemeinsam zu essen und dann erst mal auszuschlafen.

 

 

 

„Zaid“, sage ich, „ich muss dir etwas erzählen. Du bist der Einzige, den ich fragen kann.
Du bist Marokkaner und ich brauche deinen Rat. Was ich dir erzähle, muss aber unter uns bleibt.“

 

Und so erzähle ich ihm von Muha…

Dieser war vor vierzehn Monaten zum Studieren von Marokko nach Deutschland gekommen und wir hatten nach einem anfänglich unverbindlichem Schreiben begonnen, uns zu treffen und eine Freundschaft aufzubauen. Muha hatte mir im Vertrauen von seiner Situation erzählt und ich war traurig und verzweifelt zugleich, angesichts Muhas Lage. Bis dahin hatte ich wenig über die Probleme Marokkos nachgedacht oder besser: Ich war nicht persönlich mit einzelnen Schicksalen konfrontiert worden. Ich hatte Muha vesprechen müssen, seinen Freunden, die ich bei diesem Besuch in Marokko voraussichtlich treffen würde, nichts zu erzählen. Ich war die Einzige, der er sich anvertraut hatte. Ich wiederum fühlte mich ohnmächtig, mit niemanden darüber reden zu können. Wem hätte ich dies aber auch erzählen können? Die Reaktionen deutscher Bekannen und Freunde oder deren Ratschläge waren nicht das, was ich brauchte, konnte ich diese ja vorhersagen… Es ging weniger um rationale Erklärungen, als um ein Verständnis marokkanischer Situationen und Denkweisen. Und ich schaffte es einfach nicht, mit dieser Verzweiflung alleine zu sein.

Ich vertraute mich meinem marokkanischen Freund Zaid an. Zaid hörte zu, sagte immer wieder: „Eieiei. Das ist nicht gut.“ und schüttelte den Kopf.
Bereits als ich begonnen hatte zu erzählen, hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich wusste:

Es ist ein Fehler! Was du machst ist nicht gut!

Gleichzeitg sagte meine innere Sozialpädagogenstimme:
„Es ist okay. Was Muha von dir verlangt, ist nicht in Ordnung! Du musst das auch jemanden erzählen dürfen. Du musst das nicht mit dir herum tragen.“

Und: „Du sagt es ja nicht jemandem weiter, sondern vertraust dich einem Freund an. Er hat zu Muha keinerlei Bezugspunkte. Sie kennen sich nicht.“

Tja. Es stellte sich heraus, dass Zaid Muha kannte.

 

Über 35 Millionen Marokkaner.

Ich kenne eine Handvoll davon
und dann stellt es sich heraus, dass diese aus demselben Dorf kommen?!

  Was ist das? Ein dummer Zufall? Schicksal? Pech?

 

Es stellte sich weiterhin heraus, dass Zaid die Informationen über Muha sofort und direkt an dessen Familie weitergab.
Diese wiederum riefen umgehend bei Muha in Deutschland an und eine Lawine von Ereigenissen wurde in Gang gesetzt, die – hätte ich mich Zaid nicht anvertraut – vielleicht und hoffentlich verhindert hätte werden können.

 

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Ich hatte derweil – nichts ahnend – relativ entspannte Tage, in denen ich mit Zaid durch die Straßen und Cafés Marrakechs zog.


Mit Muha schrieb ich in dieser Zeit wie gewohnt täglich und war nur an Silvester irritiert, als er meine Neujahrswünsche erst sehr spät und nüchtern erwiderte.
„Ich wollte dir deinen Urlaub nicht verderben“, sagte er später zu mir.

Zurück in Deutschland, schrieb Muha nur einen Satz:

„Ich weiß, was du getan hast.“

Über Muhas weitere Geschichte und meine möchte ich nichts weiter erzählen. Dies ist eine eigene und gehört hier nicht her. Sie hört sich auch eher wie ein schlechter Groschenroman an.
Und es macht mich unsagbar traurig, was ich (und Zaid) mit meinem Vetrauensbruch ausgelöst habe.

 

Es gibt Fehler, die man nicht mehr gut und Konsequenzen, die man nicht rückgängig machen kann.

 

Zaid behaupt bis heute – zwischenzeitlich haben wir noch distanzierten Kontakt – nichts gesagt zu haben. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Der Verrat – denn er wusste ganz klar, welche Konsequenzen sein Verhalten für Muha und auch für mich haben würde – oder das Nichteingestehen.
„Ja, ich habe es weitergesagt, es tut mir leid.“
Es hätte an den Folgen für die betroffenen Personen nichts geändert, aber wäre ein Zeichen von Fairness und Freundschaft oder des Respekts gewesen.

 

Ich habe mich lange gefragt:
Warum hat Zaid das getan?

Wie soll ich Zaids Verhalten interpretieren?

War er schlicht ein Schwätzer oder ein ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedachter Mensch?
Oder ist es eines dieser kulturellen Rätsel, die ich einfach nicht verstehe: War er doch „Freund“ und wird mit Vertraulichkeiten in Marokko einfach anders umgegangen?

Ich habe oft von meinen marokkanischen Bekannten Dinge erzählt bekommen mit dem Beisatz „Sag es niemandem!“ Hierbei ging es jedoch nie um wirklich gravierende Inhalte und Abdel erklärte mir, dass es tief verankert in der marokkanischen Kultur sei, nach dem Motto „Streue bewusst Informationen in dem Wissen, dass es sich so auf jeden Fall verbreiten wird“.
Auch habe ich schon öfter zu hören bekommen, dass der Neid sehr präsent ist und dieser Beziehungen vergiftet. Der Neid auf Liebe, der Neid auf ein vermeintlich gutes Leben, der Neid auf eigentlich alles, was man selbst entbehrt.

 

Ich habe diese Geschichte einem westafrikanischem Bekannten erzählt. Seine Antwort war kurz und bündig:
„Steff, das ist nicht Kultur. Er ist schlicht und einfach ein …*!“

*Ich verzichte an dieser Stelle auf den genauen Wortlaut…

 

Und jetzt frage ich euch – besonders euch Marokkanerinnen und Marokkaner: Was sollte das?
Habe ich irgendwas an der marokkanischen Kultur so gar nicht verstanden?
Oder war Zaid tatsächlich und schlichtweg einfach kein guter Freund?

 

 

Marokkanische Freundschaften: Zaid

Mein erster guter marokkanischer Freund war Zaid.

 

Ich lernte ihn in meinem Marokko-Urlaub kennen.
Er begleitete unsere kleine Reisegruppe und er war es, der mir die Kultur der Imazighen (Berber)  und den Stolz über diese in Marokko lange unterdrückte Kultur nahe brachte.

Beim Abschied sagte ich: „Zaid, ich werde komme wiederkommen.“, so wie es vermutlich viele Touristen tun und in diesem Moment auch (mehr oder weniger) davon überzeugt sind.
Zaid sagte: „Merhaba. Du bist hier herzlich willkommen. Marokko wartet auf dich.“


Vier Monate lang hielten wir intensiven Kontakt:
Wir schrieben, wir telefonierten. Wir erzählten uns alle mögliche Dinge, von ganz alltäglichen Dingen bis hin zu unseren Vorstellungen über das Leben, unsere Ziele und Träume. Zaid erzählte mir viel über seine Beziehung mit einer deutschen Frau.

So weit so gut.

Ich kündigte an, über Weihnachten und Silvester nach Marokko zu kommen und Zaid lud mich ein, sein Gast zu sein.

Beide freuten wir uns auf unser Wiedersehen.

 

Für mich stellte dieser erste Besuch als Gast – nicht als Touristin – eine wichtige Reise dar.

Wie werde ich Marokko in einer großen Stadt – in diesem Fall Marrakech – erleben, ohne das intensive Erleben und Weite der Berge? War mein Empfinden im Sommer tatsächlich mehr als nur ein flüchtiges Urlaubsgefühl, dem nachzugehen sich lohnt?

Diese Fragen beschäftigten mich.

Aber um ganz ehrlich zu sein: Dieser Besuch war weniger eine „Überprüfung“, als das Einholen einer letzten Bestätigung. Marokko war schon so fest in meinem Kopf verankert, dass die ernüchternde Bilanz „Es war nur eine Idee.“ gar keine Option mehr darstellte.


Es war außerdem das erste Mal, Weihnachten nicht zu feiern oder in Deutschland zu verbringen.

Weihnachten als christliches Fest gemeinsam mit der Familie zu begehen war mir stets wichtig und ist es mir auch noch. Doch dieses Mal, erschien mir die islamgeprägte weihnachtslose Variante in Marokko die Richtige zu sein.

 

Was mich ungeheuer frei machte: Ich buchte nur den Hin- und Rückflug.
Kein Hotel. Keine Absicherung. Keine feste Pläne, was ich unternehmen oder anschauen wollte
.

 

Ich bin überzeugt davon: Wir Deutschen machen zu viel Pläne.
Alles ist getaktet und durchdacht und nimmt damit so viele Möglichkeiten, das Überraschende zu genießen oder uns auf das Unerwartete einlassen zu können.

 

Zaid fragte mich, was ich vorhätte, wenn ich kommen würde.

Ich sagte: „Nichts. Ich will es dieses Mal auf marokkanische Art machen.
Ich will einfach nur kommen, dich treffen und die erste Nacht bei dir Gast sein.
Ich möchte in Cafés sitzen, die Stadt erkunden, Fatima treffen. Na ja… und dann mal sehen. „

Zaid lachte und sagte: „Also doch wieder ein Plan!“

 

Das einzigste, worauf ich mich verließ war, dass Zaid mich am Flughafen abholen würde und ich die erste Nacht bei ihm und seinem Mitbewohner bleiben konnte. Ich hatte zwar keine Angst, was sollte schon passieren? Doch einen festen Ankerpunkt am Anfang beruhigt doch ungemein.

Es war es eine Erfahrung, die ich noch nie gemacht hatte: Einfach so“, ganz alleine in ein fremdes Land zu reisen, ohne zu wissen, wo ich den darauf folgenden Tag sein  und was ich machen würde. Sich einfach auf das Land und den Tag einlassen…

Angst? Nein. Aufregung: Ja!

Und so fuhr ich nach einem letzten hektischen Arbeitstag direkt zum Frankfurter Flughafen und stand zwei Tage vor Weihnachten mitten in der Nacht mit einer Reisetasche zu meinen Füßen, mit einem Handy in der Hand im warmen Marrakech am Flughafen und hielt Ausschau nach Zaid…