Tasarout und sber

Oder: Was ein Schlüssel mit Gelassenheit zu tun hat.

Man hat hier im kleinen Fischerdorf Imsouane von Vielem nichts und von Nichts viel.

Was die Menschen hier in rauher Menge haben, ist Geduld und Gelassenheit, auf tamazight „sber“.
Dies ist sicherlich eine grundlegende Eigenschaft von Fischern, aber auch eine Haltung, die Marokko zu durchdringen scheint. Man macht, was man kann – und das ist oft harte, zähe Arbeit – und dann wartet man geduldig, was sich daraus entwickelt. Das Leben ist aus beidem gestrickt: Aus dem eigenen Tun und dem Vertrauen in Allah.
Diese Geduld und Gelassenheit sind Eigenschaften, die das traditionell geprägte Leben in Marokko durchziehen und mit ein Grund, weshalb ich vor allem die Menschen der älteren Generationen und das Land so sehr mag.

Ich sitze in Budrars kleinem Café-Restaurant, Butyi und ein weiterer Hund zu Füßen und übe mich in Geduld.

Es ist ein schöner Tag. Es ist frisch aber nicht kalt, die Sonne scheint, das Leben beginnt am heutigen dritten Ramadantag hier im kleinen Dorf gemächlich.
Ich sehe die lässigen Surfer mit ihren langen Lockenmähnen und Rastas vorbei schlurfen, schaue irritiert auf den mittlerweile ungewohnten Anblick der weißen Beine und Oberschenkel einer jungen Frau in Hotpants und blicke den Männern des Dorfes nach, die ihren Verrichtungen nachgehen: dem Fischer in der Adidasjogginghose und seinen riesigen Gummistiefeln, dem jungen Vater mit seinen beiden kleinen Jungs auf dem Mofa, einer vorne, einer hinten, den jungen Männern im Laden gegenüber…

„Bslama.“
Der ältere braungebrannte Mann in der schönen weißen Djellabah, der schweigend mit mir im Café saß, verabschiedet sich und ich schrecke aus meinen Beobachtungen hoch.
Ist Budrar schon zu sehen? Nein. Noch nicht.

Was solls. Ich habe Zeit.

Butyi und der Hund liegen faul zu meinen Füßen, strecken sich, üben sich ebenfalls in Ergebenheit und Geduld. Was bleibt ihnen auch anderes übrig?
Butyi hat Hunger, es ist längst Essenszeit, aber ich kann nicht ins Haus und somit nicht an sein Fressen. Sonst würde ich wohl kaum hier sitzen und auf Budrars kleines Restaurant aufpassen, eigentlich aber seit einer Stunde auf die Toilette müssen und zum zweiten Tee des Tages nach Hause wollen.

Ich könnte mich ärgern wie dumm ich bin. Mache ich tatsächlich aber nur ein ganz kleines bisschen.

Ich habe mal wieder einen Schlüssel verloren (das ist bereits das zweite Mal in Marokko) und wieder (was es nicht besser macht) beim Spaziergang mit anderen Hunden. Dieses mal ist es der Schlüssel des Appartements.
Dummerweise ist mein Vermieter diese Woche in Agadir, was 80 Kilometer entfernt ist, und außerdem alles, auch mein Handy mit seiner Telefonnummer, in der Wohnung.

Nach einer Stunde mehrmaligen Abgehens der potenziell benutzten „Wege“ – die zahlreichen Ziegenpfade sind beim Verlieren eines Schlüssels eher ungeeignet – mit Butyi und dem jungen Schäferhund, der uns treu bis zum Schluss begleitet hat, gehe ich zu Budrar ins Restaurant.
„I need your help. I have lost the key of the appartmenent.“
Er lacht: “My friend, my geminifriend…“

„We always loose our things when looking in the sky.“

Er gibt mir Papier und Stift. Ich gehe damit zum Haus, schreibe die Handynummer ab, die dort groß an der Hauswand prangt und gebe diese Budrar, der sich damit auf den Weg macht, um ein Handy aufzutreiben und meinen Vermieter anzurufen.

Und so sitze ich nun hier: Keeper eines Café-Restaurants, zwei Hunde zu Füßen, angehalten zum Nichtstun und denke so vor mich hin.

Wirkliche Geduld war letztendlich nicht notwendig, nur das Vertrauen in die Hilfsbereitschaft der Menschen und ein Gelassenbleiben angesichts der Nichtigkeit des Vorfalls, denn hey, es ist nur ein Schlüssel!
Badrur kommt dann tatsächlich auch ein wenig später mit einem Mann zurück, der sich als Hocein vorstellt und mir ein Handy und einen Schlüsselbund präsentiert. Er lacht. Er reicht mir das Handy, am anderen Ende ist der Vermieter, auch er lacht. „Stefanie, ca va?“
Hocein geht mit mir zum Appartement, schließt auf, übergibt mir den Schlüssel und sagt auf Tamazight: „Pass gut auf den Schlüssel auf.“
Dann geht er und ich mache Butyis Fressen und mir endlich meinen verspäteten Vormittagstee.

Man hat hier von Vielem nichts, ja: Es gibt keine Bank, keinen Supermarkt, wenig Ablenkung, um sich die Zeit zu „vertreiben“, die nächste Stadt ist 35 Kilometer entfernt.
Aber man hat hier eine ruhige Gelassenheit an die Dinge heranzugehen und diese mit Hilfe anderer zu lösen.  „You are not alone. Sit down and wait“

Ich will das einfache marokkanische Leben nicht verklären. Mir ist klar, dass das Leben hier nicht leicht ist und diese Gelassenheit letztendlich mit daher rührt, dass es für viele Menschen wenig bis keine Alternativen zu der aktuellen Lebenslage gibt. Gelassenheit ist somit auch immer ein Stück weit Ergebenheit in das Schicksal, in die Unabänderlichkeit des Lebens, in Allah, wie man es auch benennen möchte.

Trotz dessen denke ich, dass wir modernen Europäer – ich spreche für die Mehrzahl, mich eingeschlossen – hiervon lernen können.
Um auf den verlorenen Schlüssel zurück zu kommen: Wie oft machen wir aus unbedeutenden Sachen ein Wirbel und erzeugen Stress, der weder nötig ist, noch in irgendeiner Relation dazu steht?!

„Hätte, wäre, wenn…“

Was bringt es, sich über Vergangenes oder Gegebenes
den Kopf zu zerbrechen?
Wir haben so viele Probleme auf der Welt – wirkliche Probleme – und fundamentale Herausforderungen in unseren eigenen Leben, so dass wir unsere Gedanken und Energien lieber darauf lenken sollten.
Diese wichtigen Dinge verdrängen wir stattdessen oft sehr elegant und wenden uns kleinen unnötigen „Schlüssel“-Situationen zu.

Was ich hier schreibe ist nichts Neues.
Für mich jedoch war dies ein Aha-Erlebnis, bin ich nämlich so gar nicht der geduldige Typ, und Anlass einer schönen Begegnung, die ohne diesen verlorenen Schlüssel nicht stattgefunden hätte!

 

Marrakech

 

Al hamra die Rote,
so wird Marrakech genannt.

 

Egal in welchem Viertel man sich in Marrakech befindet, das warme Rosarot prägt das Bild.

Auf mich hat dies einen beruhigenden und zugleich belebenden Effekt. Ich empfinde Marrakech als warm und vor Leben nur so strotzend.

Marrakech ist eine Stadt der Gegensätze, die stets und an jedem Eck präsent sind.
Diese können irritieren und manchmal auch anstrengen, ergänzen sich aber zu einem faszinierenden Ganzen und verfügen über eine unheimliche Anziehungskraft.

Diese Mischung aus Tradition und Moderne, aus Orient und Okzident, das Flair arabischer und afrikanischer Elemente ergeben eine Explosion an Sinneseindrücken, die unvergleichlich ist.

Die Vielseitigkeit der Stadt und deren Bewohner – den Marrakchi – mag auch die Erklärung für die Vielzahl unterschiedlichster Besucher sein.
Von der klassischen Familie über den All-Inclusive-Touristen und dem alternativen
Urlauber bis hin zum von Luxus verwöhnten Genießer aus den unterschiedlichsten Kulturen und Ländern, es lässt sich hier alles finden und betont das Gesamtbild und den Charakter der Stadt um so mehr

Auch ich finde mich hier nahtlos ein, so – wie ich behaupte – gerade in einer Stadt wie Marrakech jede Nichtmarokkanerin ihren Lebensstil finden und leben kann.
Ich selbst fühle mich nicht als Touristin, aber auch nicht als alternative Urlauberin. Ich würde mich als eine Art Mischung aus Gast, Entdeckerin und Lernende beschreiben. 


Ich liebe Marrakech, bereits von meinen letzten Besuchen, und hätte viel früher hierher kommen sollen…

 

Nicht der Weg ist die Schwierigkeit.
Die Schwierigkeit ist der Weg.
Soren Kierkegaard

 

Manchmal macht „man“ – ich spreche hier im Besonderen von mir – es sich besonders schwer.
Man denkt, das große Neue und Besondere einer Kultur finden zu müssen und vergisst darüber hinaus, dass sich dies meist im Kleinen und scheinbar Alltäglichen findet.
Ich habe darüber hinaus unterschätzt,  wie sehr ich mir entsprechende Strukturen und Rituale brauche. Dies bedeutet für mich, mit dem Hund einen sicheren Rückzugs- und Wohlfühlort zu haben und Menschen, mit denen ich mich – wenn auch lose – in den regelmäßigen Begegnungen austauschen und lachen kann.

Ich mag das Traditionelle und Ursprüngliche der Tamazight-Kultur – das war eine Motivation meiner Reise hierher – und die Herzlichkeit der Menschen, die mir oft entgegen gebracht wird.
Und genau das finde ich hier.

Das traditionelle Marrakech zeigt das Gesicht der Imazighen. Viele „Berber“ leben hier und haben ihre Kulturen in diesen großen Schmelztiegel gebracht. Gleichzeitig ist Al Hamra, die Rote, bekannt für die offene und freundliche Art der Marrakchi.

Ich lebe in einem Viertel der einfachen Leute, nahe der Universität. Ich sehe hier keine Touristen oder europäische Einwanderer. Das ist schön und macht mich frei in meinem Verhalten. Ich kann entspannt die Rolle einer teilnehmenden Beobachterin einnehmen, die zunehmend mehr zum Alltagsbild des Viertels gehört. 

Ich bin nun seit eineinhalb Wochen hier und die Leute beginnen mich auf meinen Gassigängen zu grüßen und Höflichkeiten auszutauschen. Ich liebe es!

Ich freue mich Kadu zu sehen, den alten Mann aus der Polsterei, der Butyi stets separat (und zuerst) begrüßt und – Hamdollah! – sich freut, dass es auch ihm gut geht.
Ich fühle mich angenommen wenn einer der Männer, mit denen ich mich regelmäßig im Café unterhalte, mit seinem Roller anhält und fragt, wie mein Tag war.
Ich winke lachend zurück, wenn mich der Kioskmann entdeckt hat und ich freue mich außerdem, dass einige  der Frauen beginnen, mich mit einem Salam auf der Straße zu grüßen…

Ich habe hier meinen Ort gefunden, der Ausgangspunkt weiterer Etappen sein wird und ein sicherer Rückzugsort bleiben wird, an den ich immer wieder zurück kommen darf und kann. Shucran Loubna!